„Ich möchte, dass alle glücklich sind“

Am 12. August 1904 wurde in Petershof der einzige Sohn des russischen Imperators Nikolaj II. und der Zarin Alexandra Fjodorowna geboren, der Anwärter auf den russischen Zarenthron, der Zarensohn Alexej. Er war das fünfte und sehnlich erwartete Kind der Zarenfamilie, für das sie oft und heiß gebetet hatten. Zu Ehren der Geburt des russischen Thronfolgers wurden in Petershof ungefähr 300 Gewehrsalven abgefeuert. Diesen folgten Geschütze aus Kronstadt, und darauf die Batterien der Peter-Pauls-Festung. In ganz Russland wurden Salutschüsse abgefeuert, läutete man die Glocken, und hängte man Flaggen auf. Der Zarensohn Alexej Nikolajewitsch Romanow war der erste männliche Thronfolger, der in der Familie eines herrschenden Zaren, seit dem 17. Jahrhundert, geboren wurde. Entsprechend der Tradition wurden in Verbindung mit der Geburt des Thronfolgers wohltätige Organisationen gegründet. Da Russland in dieser Zeit Krieg mit Japan führte, organisierte die Zarin im Oktober 1904 einen militärischen Sanitätszug, der auf den Namen des Thronfolgers Alexej getauft wurde, und im Jahre 1905 wurde das Alexejewski Komitee zur Hilfe für Kinder gegründet, die ihre Väter während des russisch-japanischen Krieges eingebüßt hatten.

Die Freude der Eltern über die Geburt des Thronfolgers und die gesamte Kindheit des Zarensohnes wurde überschattet von seiner schweren Krankheit – Hämophilie (Bluterkrankheit), die er von der mütterlichen Linie von der Urgroßmutter der englischen Königin Viktoria geerbt hatte. Die Krankheit verursachte dem Kind viel Leid. Bei jedem Schlag, jeder Prellung, Schramme bildete sich ein blauer Fleck aufgrund des inneren Blutverlustes, der starke Schmerzen verursachte. Der Junge musste ständig beobachtet und sorgsam behandelt werden. Ihm wurden zwei Matrosen der Zarenjacht „Standart“ beigegeben: der Bootsmann Derewenko und sein Helfer Nagornyj.

Der Lehrer der Zarenkinder Pierre Gilliard schrieb in seinen Erinnerungen, dass Alexej das Zentrum der zusammenhaltenden Zarenfamilie war, und dass sich auf ihm die ganze Anhänglichkeit und Hoffnungen konzentrierten. „Die Schwestern vergötterten ihn und er war die Freude seiner Eltern. Wenn er gesund war, schien es, als sei der gesamte Palast gleichsam wie verwandelt; er war wie ein Sonnenstrahl, der sowohl die Gegenstände, als auch die ihn umgebenden Personen in Licht tauchte.“ „Er genoss das Leben in vollen Zügen, wie es ihm gerade möglich war, als ein ausgelassener und lebensfroher Junge. Seine Ansprüche waren überaus bescheiden. Er gab überhaupt nicht damit an, dass er der Thronerbe war, darüber dachte er am wenigsten nach. Seine größte Freude war es, wenn er mit den beiden Söhnen des Matrosen Derewenko spielen konnte, die beide etwas jünger als er waren. Er hatte einen sehr lebendigen Geist, und großes Urteilsvermögen und war sehr nachdenklich. Manchmal erstaunte er durch Fragen, die seinem Alter gar nicht entsprachen, die davon zeugten, wie zart und empfindsam seine Seele war.

Einmal sah ihn die ältere Schwester Olga, wie er auf dem Boden lag und in den Himmel schaute. Sie fragte, was er da macht. „Ich mag es zu denken, nachzudenken“, antwortete Alexej. Olga fragte ihn, worüber er denn gerne nachdenkt. „Da gibt es sehr vieles“ antwortete der Junge, „ich erfreue mich an der Sonne, und an der Schönheit des Sommers, solange ich das kann. Wer weiß, vielleicht kann ich es eines Tages nicht mehr tun.“

Alle, die den Zarensohn Alexej kannten, stellten fest, dass er ein weiches und gutes Herz habe, dass er niemanden etwas zuleide tun konnte und er niemals arrogant oder hart gegenüber jenen war, die ihm umgaben. Vom Vater hatte er die Einfachheit geerbt. Auch hatte er keinerlei Selbstgefälligkeit oder Überheblichkeit an sich. Besonders schnell fand Alexej Zugang zu den einfachen Menschen. Zart und rührend liebte er sein „Onkelchen“ Derewenko, und er zeigte herzliche Anteilnahme, wenn einem seiner Diener irgendein Unheil zustieß. Mit Interesse und tiefer Aufmerksamkeit betrachtete er das Leben und sagte oft: „Wenn ich Zar bin, dann wird es keine Armen und Unglücklichen geben! Ich möchte, dass alle glücklich sind.“

Im Park Alexandria von Petershof hatte der Zarensohn sein eigenes Feld, auf dem er Roggen anpflanzte und diesen selbst mit der Sichel erntete, um besser zu fühlen, wie die Arbeit der einfachen Menschen ist. Alexej liebte alles Russische. Sein Lieblingsmusikinstrument war die Balalaika, und er spielte darauf sehr gut.

Der Junge war überaus akkurat, stellte hohe Anforderungen an sich selbst, doch er mochte die Hofetikette genau so wenig wie seine Eltern. Er konnte Lüge nicht ertragen und duldete diese nicht in seiner Nähe. Seine Geduld und sein starker Wille entwickelten sich immer mehr und wurden durch die häufigen physischen Leiden nur gestärkt.

Der Zarensohn liebte seine Familie sehr. Der Vater war für Alexej ein Idol, dem er in jeder Hinsicht nachzueifern suchte. Alexej achtete die Älteren aufrichtig und er unterwarf sich nicht einem äußeren Einfluss und hörte ausschließlich auf den Vater. Der Zar Nikolaj II. sagte einmal einem Minister gegenüber über seinen Sohn: „Ja, mit ihm werdet ihr es nicht so leicht haben, wie mit mir.“

Alle, die Alexej nahe standen, bemerkten seine Religiosität. Gemeinsam mit der gesamten Familie besuchte er die Gottesdienste in der Kathedrale. Die Eltern brachten ihm das Beten bei. Es sind Briefe des Zarensohnes erhalten gelblieben, in denen er seinen Verwandten zu den kirchlichen Feiertagen gratuliert, ebenso sein Gedicht: „Christus ist auferstanden!“, das er an die Großmutter gesandt hatte, der verwitweten Maria Fjodorowna. Seine Briefe, die er während der Zeit der Trennung an seine Mutter schrieb, endeten auf jeden Fall mit den Worten: „Der Herrgott möge Dich und die Schwestern beschützen!“ Im Jahre 1910 schenkte der Patriarch von Jerusalem, Damian, der von der Frömmigkeit des Zarensohnes wusste, ihm zu Ostern die Ikone „Die Auferstehung des Christus“, mit Steinteilen des Grabes des Herrn und von Golgatha.

Ungefähr im Alter von sieben Jahren begann Alexej zu lernen. Genau wie auch die anderen Verwandten erhielt er häuslichen Unterricht. Den Unterricht leitete die Zarin selbst, die auch die Lehrer auswählte. Alexej begann das Gesetz Gottes zu studieren, die russische Sprache, Arithmetik. Etwas später kamen Geographie, und die französische und englische Sprachen hinzu. Die Eltern verschoben den Fremdsprachenunterricht bewusst nach hinten, damit sich bei ihm eine reine russische Aussprache entwickeln konnte.

Das Klassenzimmer des Zarensohnes war sehr bescheiden eingerichtet, ohne Prunk. Auf den Schränken, die sich an den Wänden hinzogen, befanden sich Lehrmaterialien, Rechenbretter, eine Karte über die Ausdehnung Russlands unter den Romanows, eine Lehrkollektion von Mineralien aus dem Ural und Gesteine, und ein Mikroskop. In den Schränken wurden weitere Lehrbücher aufbewahrt, die auch militärisches Wissen implizierten. Besonders viele Bücher gab es, die Geschichte das Haus Romanow betreffend, die anlässlich des 300. jährigen Bestehens der Dynastie herausgegeben worden waren. Darüber hinaus gab es dort eine Sammlung an Diapositiven zur Geschichte Russland, Reproduktionen von Gemälden, Alben und verschiedene Geschenke. An der Tür der Stundenplan und das Suworow-Vermächtnis.

Wie die Lehrer bemerkten, war der Thronfolger sehr klug und wie seine Schwester die Großfürstin Olga fasste er alles sehr rasch auf. Der Oberpriester Georgi Schawelski schrieb über den Zarensohn: „Gott hatte den unglücklichen Jungen mit wunderbaren Naturbegabungen ausgestattet: mit einem starken und raschem Verstand, mit Einfallsreichtum, einem guten und mitleidigem Herzen, einer bezaubernden Einfachheit; der geistigen Schönheit entsprach auch die des Körpers.“

Von seiner Geburt an war das Leben von Alexej nur dem einen untergeordnet, und zwar der zukünftigen Zarenherrschaft. Der Tradition nach waren alle Zarensöhne – die Großfürsten – von Geburt an Oberhäupter oder Offiziere der Garderegimenter. Der Zarensohn Alexej wurde Oberbefehlshaber des 12. Ost-Sibirischen Schützenregiments und Ataman aller Kosakentruppen. Er wurde in die Listen der zwölf militärischen Gardetruppen eingetragen, da gemäß der Tradition der Russische Imperator unbedingt dem Militär angehören musste. Zum Moment seiner Volljährigkeit sollte der Thronfolger schon über einen ausreichend hohen militärischen Rang verfügen und zu einem der Kommandeure des Bataillons eines Garderegiments ernannt worden sein.

Der Zar Nikolaj II. machte den Sohn selbst mit der russischen Militärgeschichte vertraut, und auch mit dem Aufbau der Armee und den Besonderheiten ihrer Lebensart. Für die Ausbildung des Sohnes organisierte er eine Truppe aus den Söhnen niederer Ränge die unter der Leitung des „Onkelchens“ Derewenko standen. Der Vater konnte dem Thronfolger nicht nur die Liebe zum Kriegshandwerk vermitteln, sondern auch die Ehrung und Achtung gegenüber den russischen Soldaten, die auch an ihn schon von allen Herrschenden Vorfahren weitergegeben worden war, die immer darauf bedach hat waren, den einfachen Soldaten zu lieben.

Von frühester Jugend an nahm Alexej häufig an den Empfängen von Abordnungen und an den Truppenschauen teil. Der Kommandant einer Kosakenhundertschaft, P. N. Kransow, beschreibt in seinen Erinnerungen einen Fall, der sich im Januar 1907 ereignete. Nikolaj II, hatte vor, seinen Sohn dem Kosaken der Leibgarde des Atamanenregiments vorzustellen. Die Kosaken liebten ihren jungen Ataman sehr, und waren diesem zutiefst ergeben. Als der Zar mit seinem Thronfolger die Reihen der Kosaken abschritt, bemerkte Krasnow, dass bei den Kosaken aus seiner Hundertschaft die Säbel schwankten. Kransow lief dem Zaren hinterher, und sah, wie sich die Standarte neigte, und auf dem Gesicht des strengen Wachtmeisters zeigten sich Tränen. „Und je weiter der Zar und der Thronfolger die Front abschritten, begannen die Kosaken in Tränen auszubrechen, und die Säbel wackelten in den schwieligen Händen. Doch dieses Schwanken konnte und wollte ich nicht beenden“, erinnert sich Kransow.

Alexej liebte seine Krieger ebenfalls sehr und kannte seine Verpflichtungen ihnen gegenüber, auch als er noch ein kleines Kind war. Gemäß den Erinnerungen von Julia Den, der Hofdame und der Freundin der Zarin, spielte er einmal angeregt mit seinen Schwestern. Und da teilte man ihm mit, dass Kosaken gekommen seien, und ihren Thronfolger zu sehen wünschten. Der sechsjährige Knabe hörte sofort auf zu spielen und sagte mit wichtigem Gesichtsausdruck: „Mädchen, geht weg, der Thronfolger hat einen Empfang.“

Im Jahre 1914 begann der Erste Weltkrieg. Im August 1915 übernahm Nikolaj II, die Pflichten des Oberbefehlshabers und begab sich aus Zarskoe Selo in das Hauptquartier – in die Stadt Mogiljow. Nach einiger Zeit reiste auch Alexej zum Vater in das Hauptquartier. Die Lehrer und Erzieher folgten diesem nach. Alexej war damals 12 Jahre alt, und sein Lehrprogramm entsprach dem der 4. – 5. Klasse des Klassischen Gymnasiums. Der Unterricht wurde an sechs Tagen in der Woche zu je 4 Stunden am Tage durchgeführt. Besonderes Gewicht wurde dem Sprachunterricht beigemessen. Der Zar meinte, dass das Verweilen in dem Hauptquartier dem Thronfolger sehr viel an Erfahrung vermitteln könne, mehr als aller Unterricht auf den Papier zusammen genommen. Der Gefreite Alexej Romanow trug die gewöhnliche Soldatenuniform mit Stolz, ebenso die hohen russischen Stiefel. Seine Lieblingsspeise waren „Kohlsuppe und Brei mit Schwarzbrot, die alle meine Soldaten essen“, wie er es auszudrücken pflegte. Jeden Tag brachte man ihm Kohlsuppe und Breis zum kosten aus der Soldatenküche des Gemischten Regiments. Gemäß den Erinnerungen der Umgebung aß der Thronfolger alles auf und leckte dann den Löffel ab, und dabei strahlte er vor Vergnügen und sagte: „Das schmeckt gut – das ist etwas ganz anderes als unser Mittagessen.“

Fast das ganze Jahr 1916 über verbrachte Alexej zusammen mit seinem Vater, er begleitete ihn auf allen Fahrten in die Kämpfende Armee, und er zeichnete die sich hervorgetanen Kämpfer aus. P. Gilliard erinnert sich: „Nach der Truppenschau gib der Herrscher auf die Soldaten zu und begann mit ihnen ein einfaches Gespräch, wobei er sie über die grausamen Kämpfe befragte, an denen sie teilgenommen hatten. Alexej Nikolajewitsch folgte dem Vater dabei auf dem Fuße, und lauschte mit leidenschaftlichem Interesse den Berichten dieser Menschen, die so oft dem Tod ins Auge geschaut hatten. Sein gewöhnlich ausdrucksstarkes und bewegliches Gesicht war gekennzeichnet von Anspannung, die von den Anstrengungen herrührte auch nicht ein Wort zu verpassen.“ Während des Krieges wurde der Thronfolger Alexej mit der Silbernen Georgiewski Medaille 4. Ranges ausgezeichnet. Nach Meinung von A. A. Mordwinow, des Flügeladjudanten von Nikolaj II., versprach der Thronfolger „nicht nur ein guter, sondern ein herausragender Monarch zu sein.“

Zu Beginn des März 1917 musste sich der Zar Nikolaj II. vom Thron lossagen und nicht nur in seinem Namen, sondern auch im Namen seines Sohnes: „da ich mich nicht von Meinem geliebten Sohn trennen will“ P. Gilliard beschrieb, wie er diese Neuigkeit dem Thronfolger Alexej mitteilte: „Ich erklärte ihm damals, dass der Zar auf den Thron verzichtet hätte, zugunsten seines Bruders des Großfürsten Michail Alexandrowitsch, und dass dieser seinerseits verzichtet habe. ‚Doch, wer wird dann Zar sein?’ ‚Ich weiß nicht, im Moment niemand.’

Er sagte nichts über sich selbst, kein Wort dazu, dass er der rechtmäßige Nachfolger sei. Er wurde ganz rot und war sehr aufgeregt. Nach einigen Minuten des Schweigens sagte er: ‚Wenn es keinen Zaren mehr gibt, wer wird dann Russland regieren?’

Ich erklärte ihm, dass sich eine Übergangsregierung gebildet habe, die sich mit den Staatsangelegenheiten befasst bis eine Konstituierende Versammlung zusammengerufen wird, und dass es dann sein kann, dass doch der Onkel Michail den Thron besteigt. Ich war wieder ganz erstaunt, wie bescheiden dieses Kind war.“

Genau von dem Moment an, das sich der Zar vom Thron losgesagt hatte, wurde die Zarenfamilie in Zarskoe Selo unter Arrest gestellt, und im August nach Tobolsk in die Verbannung geschickt. Dort stürzte Alexej eine Treppe hinab und zog sich ein Trauma zu, nach dem er lange nicht in der Lage war, zu laufen. Nach dem Umzug nach Jekaterinburg im Frühjahr 1918 verschärfte sich seine Krankheit. Das Leben der Zarenfamilie war in Jekaterinburg im Hause des Ingenieurs Ipatjew einem strengen Kerkerregime unterworfen: Isolation von der Außenwelt, sehr bescheidene Lebensmittelversorgung, ein einstündiger Spaziergang jeden Tag, Durchsuchungen, Erniedrigungen, und Feindseligkeit der Wachmannschaften. Doch ungeachtet all dessen fuhr Alexej bis zum letzten Tage seines Lebens mit seinem Unterricht fort. Der Zar selbst unterrichtete den Sohn und auch die Mutter Alexejs Alexandra Fjodorowna und der Leibarzt Jewegeni Botkin. Nach Aussagen vieler Zeitzeugen ließ sich die Zarenfamilie die aufgezwungene Beschränktheit des Lebens nicht zu schwer werden. Sie liebten einander so sehr, sie fanden es miteinander so gut und interessant, dass sie nur von der Sorge um Russland niedergeschlagen waren und von der ihnen von Menschen zugefügten Grobheit und Grausamkeit. In der tragischen Zeit schweißte das gemeinsame Gebet die Familie zusammen, der Glaube und die Hoffnung und Geduld. Während sie von feindlich eingestellten Menschen umgeben waren, lasen die Gefangenen spirituelle Literatur, fassten anhand des Beispiels des Erlösers und der heiligen Märtyrer Mut. Alexej war immer während des Gottesdienstes anwesend, dabei saß er im Sessel. Am Kopfende seines Bettes hingen viele Ikonen an einer goldenen Kette.

Der Thronfolger Alexej erlebte seinen vierzehnten Geburtstag nicht mehr. In der Nacht auf den 17. Juli 1918 wurde er zusammen mit seinen Eltern und den Schwestern im Keller des Ipatjew-Hauses erschossen.

 

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